Der längste Krieg
Seit drei Jahrzehnten kämpfen Armenien und Aserbaidschan am Rande Europas um die Enklave Bergkarabach. Kann es nach so langer Zeit Frieden geben? Besuch in einem Land, das es eigentlich nicht gibt.
Foto: Didier Ruef
STEPANAKERT, REPUBLIK ARZACH - Wie unterrichtet man Kinder, die im Krieg
leben? Artur Andonyan, Rektor der Schule Nummer 9 in Stepanakert, reibt
sich mit der Hand über das faltige Gesicht. „Es macht keinen Unterschied.
Der Krieg hat keinen Einfluss auf den Lernprozess“, sagt der 59-Jährige.
Stolz berichtet er von den Erfolgen bei den Schachmeisterschaften. Er zählt
die Fremdsprachen auf, die die 400 Mädchen und Jungen während der
neunjährigen Schulzeit lernen - Russisch, Englisch, Französisch. Dann führt
er uns in einen Raum im ersten Stock. An den Wänden hängen Bilder von
Waffen, eine Schautafel erklärt den Zündmechanismus einer Handgranate.
Einmal in der Woche erhalten die Jugendlichen hier Militärunterricht. In
der Ecke steht eine Wickelkommode mit gepolsterter Auflage. Lernen die
Schüler hier den Umgang mit Babys? Der Rektor verzieht das Gesicht, als ob
er einen schlechten Witz gehört hat. Auf der Kommode üben die Schüler, „wie
man eine Kalaschnikow zerlegt und ölt“, erklärt er nüchtern. „Wir bilden
die nächste Generation der Soldaten aus.“
Wir sind in der Republik Arzach, besser bekannt als Bergkarabach. 150.000
Einwohner, acht Provinzen, 17 aktive Kirchen. Einem Land, das es eigentlich
nicht gibt. Bergkarabach hat keine offiziellen Postverbindungen, keine
internationale Telefonvorwahl, keinen Sitz bei der
Weltgesundheitsorganisation oder irgendeiner anderen internationalen
Institution. Der Kleinstaat im Kaukasus, halb so groß wie Hessen, wird von
keinem Land der Erde anerkannt - nicht einmal von der Schutzmacht Armenien.
Ein vergessenes Land, ein Land im Krieg. (...)
weiter
Erschienen am 4.10.2020 in der NZZ am Sonntag
Erschienen im Juni 2020 in Echo Magazin (CH)
Erschienen im September 2020 in choisir (CH)