Geklonte Städte

Chinesen sind Weltmeister im Raubkopieren. Bei Shanghai bauen sie ganze Städte nach.

article-picture

Foto: Harald Maass

TAI WU SHI, China - Von der Kirche führt eine Allee aus Kopfsteinpflaster in das idyllische Stadtzentrum. Vorbei an englischen Wohnhäusern aus roten Ziegelsteinen, prächtigen Stadtpalästen mit Säulen und viktorianischen Fassaden und an kleinen Geschäften. Eine Parkbank unter einem Baum lädt zum Verweilen ein. Daneben ein rotes Telefonhäuschen, gusseiserne Straßenlaternen. Der Himmel ist grau wie an einem Dezembertag in London.

Willkommen in Thames Town. Oder wie die Bewohner es nennen: Taiwushi Xiaozhen. Bis vor fünf Jahren gab es im Landkreis Songjiang, eine Autostunde westlich der Millionenmetropole Shanghai, nur Gemüsefelder. Heute steht hier eine komplette mittelenglische Kleinstadt. 66 Meter erhebt sich die Kirche aus Sandstein in den Himmel - ein Nachbau einer Kathedrale bei Bristol. Der Rasen um die Villen, in die demnächst neureiche Shanghaier Familien einziehen werden, ist millimetergenau gestutzt. Sogar einen britischen Pub gibt es. "Rock Point Inn" steht auf dem verwitterten Holzschild über dem Eingang. Der Name und die Fassade sind geklaut, wie auch alles andere in Thames Town.

Chinesen sind Weltmeister im Raubkopieren. Von Tempo-Taschentüchern über Chanel-Handtaschen bis hin zu Mercedes-Windschutzscheiben und Viagra-Pillen - nahezu jedes Produkt wird in der Volksrepublik nachgemacht. Die Raubkopien haben in China längst den Alltag erobert. Die Qualität der Kopien ist oft so gut, etwa bei Sportschuhen, dass selbst die Hersteller die Fälschung kaum vom Original unterscheiden können. In den Universitätsvierteln verkaufen Händler nachgemachte Studienabschlüsse - mitsamt den Stempeln der gewünschten Hochschule. Statt zur Fahrschule zu gehen, kauft man sich für wenig Geld einen falschen Führerschein.

Wer genügend Geld hat, kann künftig auch in einer nachgemachten Stadt leben. Außerhalb von Shanghai sind derzeit sieben europäische Vorstädte in Planung, in denen einmal Hunderttausend Menschen leben und arbeiten werden. Die deutsche Siedlung heißt Anting Neustadt - eine umweltpolitische Vorzeigestadt mit Mülltrennung und einem Goethebrunnen. Noch im Bau sind eine Kopie von Venedig, ein spanisches Barcelona Town und Nordic Town - als Vertreter der skandinavischen Länder.

"Die meisten unserer Villen sind bereits verkauft", sagt Li Mingli von der Baufirma Henghe, die Thames Town mit entwickelt hat. Li ist eine schlanke, energische Frau und Verkaufsleiterin für die englischen Villen. "Kultur schafft Werte", steht auf ihrer Visitenkarte. Vier Jahre habe man an der Stadt gebaut, erklärt Li. Die Planung für das fünf Milliarden Yuan (500 Millionen Euro) teure Projekt übernahm eine britische Architekturfirma. Seit Oktober ist Thames Town offiziell fertig. Eine Stadt im altenglischen Stil für 10.000 Menschen. Es gibt eine Musikhalle, mehrere Restaurants, Geschäfte und einen künstlichen See samt Yachthafen. "In der Kirche wird es auch einen Priester geben", erklärt Li.

Die Bewohner von Thames Town sind Chinas neue Oberschicht. Fünf bis acht Millionen Yuan kosten die Villen - umgerechnet 500.000 bis 800.000 Euro. Apartments sind etwas billiger. Dafür bekommen die Bewohner die perfekte Illusion, in einer englischen Kleinstadt zu leben - oder zumindest, was man sich in China darunter vorstellt. In Thames Town wird es britische Supermärkte und Geschäfte geben. In der Schule werden die Schüler britische Uniformen tragen. Die chinesischen Wachmänner, die vor jedem Haus stehen, erinnern an die Wachsoldaten vor dem Buckingham Palace in London.

Thames Town ist eine perfekte Kopie. Für manche sogar zu perfekt. Die britische Gasthofbesitzerin Gail Caddy, die in der englischen Küstenstadt Lyme Regis das Restaurant "Cobb Gate Fish Bar" betreibt, erfuhr durch Fotos in der Zeitung, dass die Chinesen in Thames Town ihr Geschäft mitsamt der Fassade geklont hatten. Sogar die etwas schiefen, frühgregorianischen Fenster wurden detailgetreu nachgemacht. Der einzige Unterschied: In Thames Town heißt das Restaurant "Cob Gate Fish Bar" - ein "b" weniger. "Ich fühle mich shanghaisiert", sagte Caddy einer Zeitung. Die chinesischen Architekten, die wochenlang mit Digitalkameras durch Englands Ortschaften gezogen waren, hatte sie nie um Erlaubnis gefragt. Die Häuser seien viele Hundert Jahre alt, rechtfertigte sich die chinesische Baufirma. Der Patentschutz, sofern es je einen gegeben habe, sei deshalb ausgelaufen.

Thames Town soll jedoch mehr als nur eine Kopie sein. Nach dem Willen der Entwickler wird die Stadt ein Ausflugsziel für Shanghais Bürger. In die Geschäftsstraßen um die Kirche, das Herz der geklonten Stadt, sollen demnächst Touristenrestaurants, Souvenirläden und Künstler mit ihren Ateliers einziehen. Eine Bar ist schon offen. Zwischen künstlichen Steinsäulen servieren blonde Russinnen bayerisches Paulaner Bier. Am Kirchplatz sind bereits die ersten Geschäfte bezogen. "Dragon Hochzeitsfotos" steht auf dem Schild. Hochzeitsfotos, bei denen sich die Paare vor historischen Gebäuden fotografieren lassen, sind in China ein großes Geschäft. Und Thames Town ist die ideale Kulisse dafür. "Die Hochzeits-Industrie wird hier eine wichtige Rolle spielen", erklärt Frau Li. Künftig sollen Busladungen von chinesischen Paaren nach Thames Town reisen, um sich vor der Kulisse der englischen Kirche das Ja-Wort zu geben. "Unsere Hochzeiten werden genau so, wie man es aus den Hollywoodfilmen kennt", sagt ein Mitarbeiter der Fotoagentur.

Eine Stunde dauert die Fahrt von Thames Town nach Anting - dem deutschen Vorort. Der Weg führt vorbei an grauen Industrieanlagen und hässlichen Wohnheimen für Wanderarbeiter. Die Luft riecht nach Abgasen und Chemie. Überfüllte Autobahnen mit riesigen Zubringerschleifen aus Beton durchschneiden das Land. Nach zwei Jahrzehnten Wirtschaftsboom ist das Umland von Shanghai, wie bei so vielen chinesischen Städten, ein ökologischer und städteplanerischer Alptraum. Für Menschen ist in diesen Industriezonen kaum noch Platz.

Uniformierte Schutzleute bewachen den Eingang zur Stadt. Anting wirkt wie ein modernes, europäisches Neubaugebiet. Die vier und fünfstöckigen Häuser sind ockergelb und pastellrot gestrichen. Jede Wohnung hat einen Balkon. Am deutschsten sind in Anting die öffentlichen Abfalleimer, die ökologisch korrekt den Müll trennen. 20.000 Menschen sollen einmal in Anting wohnen. Am Eingang zur Geschäftsstraße gibt es ein Lufthansa Reisebüro, das - wie die meisten Geschäfte in der Stadt - innen jedoch noch leer ist.

Entworfen wurde Anting von Albert Speer, dem Sohn des gleichnamigen Nazi-Architekten. "Mit Anting wollen wir zeigen, wie eine moderne, europäische Stadt funktioniert", sagt Speer. Anfangs hätten die chinesischen Partner auch in Anting ein kitschiges "Klein-Heidelberg" in die chinesische Pampa stellen wollen. Speer, der auch die gesamte umliegende Region mitsamt der Formel 1-Strecke plante, überzeugte die Stadtregierung jedoch von der Idee einer modernen, ökologischen Siedlung. Statt neoklassischem Stuck baute man Isolierverglasung und moderne Wärmedämmung in die Häuser. "Wir sparen 50 Prozent Energie", sagt Speer.

Anting ist eine ökologische und städteplanerische Modellsiedlung. Um die Stadt menschenfreundlich zu machen, sind die Häuser absichtlich nicht höher als fünf Stockwerke. Die Innenhöfe sind mit einer Parklandschaft begrünt, es gibt Kanäle zum Spazieren gehen und Tiefgaragen für die Autos. 7000 Yuan pro Quadratmeter kostet eine Wohnung in Anting - umgerechnet 700 Euro. Für das Umland von Shanghai ist das ein stolzer Preis. Wie in Thames Town dürfen die Bewohner dafür in einer abgeschotteten Enklave leben. Die Megametropole Shanghai mit seinen sozialen und ökologischen Problemen bleibt vor den Schranken des Wachdienstes. Überall in Anting sind Videokameras installiert, auf den Gehsteigen stehen Wachleute. In einer Zeitschrift für die Bewohner von Anting heißt es: "Sicherheit ist eine Art Liebe, Sicherheit ist eine Form von Schönheit, Sicherheit ist eine Art von Gefühl."

Noch gibt es nicht viel zu bewachen. Anting ist bisher eine Geisterstadt. Obwohl ein Großteil der 2000 Wohnungen und "Weimar Villen" im Bauhaus-Stil verkauft sind, leben fast keine Menschen hier. Die leeren Straßen und Gehsteige wirken wie eine Filmkulisse. "Es fehlt die Infrastruktur", sagt der Rentner Li Jiamei, der zusammen mit seiner Frau einsam auf einer Parkbank im Freien sitzt. Vor ihnen plätschert ein Brunnen mit zwei Bronzefiguren - Goethe und Schiller. Das Rentnerpaar hatte vor einem Jahr eine 160 Quadratmeter-Wohnung in Anting gekauft. Eingezogen sind sie bis heute nicht. "Es gibt keinen Supermarkt, keine Schule und keine Restaurants", klagt Li. Der versprochene S-Bahn-Anschluss nach Shanghai wird erst in ein oder zwei Jahren fertig. "Die meisten Leute haben als Geldanlage gekauft, und nicht um hier selbst zu wohnen", sagt Herr Li. Die Besitzer warten, bis die Preise nach oben gehen. Die Wohnungen und Geschäfte in der Modellstadt stehen so lange leer.

Herr Li und seine Frau sind mit einem Pendelbus aus Shanghai, der von der Baufirma betrieben wird, für einen Tagesausflug nach Anting gekommen. Im Vergleich zu Shanghai ist die deutsche Neubausiedlung mit ihren angelegten Parks und Kanälen eine Oase. "Es ist so menschenleer hier, das ist schön", sagt die Herr Li. Seine Frau nickt und rückt auf der Parkbank etwas näher an ihn heran. Am Ende der Straße fegen zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen Blätter auf dem Kopfsteinpflaster zusammen. "Vor ein paar Jahren war ich beruflich mal in Deutschland, auch in Berlin", sagt Herr Li und lächelt freundlich. Dort seien die Städte noch leerer gewesen.

Erschienen in Facts

Back To Top