Das Mädchen aus der Tofu-Fabrik

Mit 14 kam Li Jingzhen in eine Fabrik bei Peking. Dann riss ihr eine Maschine den Arm aus.

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Foto: Harald Maass

PEKING, China - Es war ein grauer Wintermorgen, als Li Jingzhen zum ersten Mal in ihrem Leben Peking sah. Drei Jahre hatte sie mit ihren Eltern in einer Baracke am Stadtrand gelebt, von morgens bis abends in der Fabrik gearbeitet. Doch erst jetzt, durch die Scheiben des Busses, entdeckt die 17jährige die Stadt, von der sie immer geträumt hat. Die Prachtbauten auf dem Boulevard des Ewigen Friedens. Das Mao-Porträt am Eingang des Kaiserpalastes. Die letzten Meter zum Obersten Gerichtshof geht Li zu Fuß. Vor der breiten Treppe des Gerichtsgebäudes kniet sie nieder – und weint.

Tränen rinnen über die roten Backen. Li weinte um ihren Arm, den sie bei einem Unfall in der Fabrik verloren hat. Sie weint, weil sie kein Geld für eine Prothese hat. Weil die Behörden und Gerichte sie abwimmeln. Als die Wachsoldaten das Mädchen wegtragen und in einem Nebengebäude verhören, hängt der Mantelarm schlaff herunter. Ein Polizist tritt ihr in den Unterleib.

Li hatte in einer Fabrik Tofu-Nudeln hergestellt. „Niu pai" nennen die Chinesen diese gelben Stangen, die man zum Kochen in Wasser einlegt. Mit 14 war Li aus der Provinz Shandong in den Vorort im Osten von Peking gekommen. 400 Yuan verdiente sie im Monat in der Fabrik – 40 Euro. „Ich war an dem Morgen alleine und musste mich um zwei Maschinen kümmern", erinnert sich das Mädchen an den Unfall im März vergangenen Jahres. Normalerweise arbeitete ihre jüngere Schwester mit ihr in der kleinen Werkshalle. Als Li mit einer Metallschaufel das feuchte Bohnenpulver nachfüllt, verheddert sich die Strickjacke in einer rotierenden Stange. „Ich versuchte noch, meinen Arm herauszuziehen." Doch ihr Körper wird in die Maschine gezogen, der Kopf schlägt gegen eine Metallplatte. Als Li aus der Ohnmacht erwacht, liegt sie blutüberströmt und schreiend am Boden. Die Maschine hat ihren rechten Arm abgerissen. Die Schwester und der Chef der Fabrik, Guo Zhitao, eilen herbei. Eineinhalb Stunden dauert die Fahrt mit dem Taxi ins Krankenhaus. Den abgerissenen Arm hält Fabrikchef Guo in eine weiße Jacke gewickelt auf dem Schoß.

„Wundoberfläche sehr schlecht. Chancen für das Wiederannähen des Arms gering", notierten die Ärzte im Jishuitan Krankenhaus in dem Unfallbericht. Weil Li noch minderjährig ist, gibt Guo ihr Alter mir 20 an. Den Namen der Arbeitseinheit lässt er auf dem Formular frei. Lis Eltern eilen in das Krankenhaus, bestehen darauf, dass der Arm wieder angenährt wird. „Die Patientin könnte während der Operation sterben", schreiben die Ärzte. Eine Stunde lang versuchen sie im Operationssaal den Arm zu retten, dann geben sie auf. Kurz unterhalb der Schulter säubern sie die Wunde und nähen sie zu. 36 Tage dauert es, bis Li aus dem Krankenhaus entlassen wird. Die Behandlungskosten, rund 15.000 Yuan, zahlt Guo. „Er verlangte, dass ich möglichst früh das Krankenhaus verlassen sollte, um Geld zu sparen", erzählt Li. Als sie von ihm das Geld für eine Armprothese fordert, weigert sich Guo zu zahlen.

Lis Vater versucht vergeblich mit Guos Familie eine Entschädigungszahlung auszuhandeln. Die Guos, die ebenfalls aus Shandong stammen, haben selbst kaum Geld. Li wendet sich an die Behörden, spricht beim Amt für Arbeitsunfälle vor. Die Beamten schicken sie wieder nach Hause. „Weil die Tofu-Fabrik illegal war, lehnten sie meinen Fall ab", erzählt sie. Auch bei anderen staatlichen Stellen wimmelt man sie ab. Lis Familie geht vor Gericht. Ein Pekinger Rechtshilfezentrum für Jugendliche, gegründet von Anwälten, unterstützt sie. In einem ersten Prozess im Mai wird der Fabrikbesitzer Guo zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 670.000 Yuan verurteilt – fast 70.000 Euro. Eine enorme Summe. Doch alle wissen, dass Li dieses Geld nie sehen wird. „Guo tauchte einfach unter. Niemand weiß, wo er ist", sagt Vater Li.

Die Tofu-Fabrik liegt verlassen auf einem Industriegelände, das der staatlichen Eisenbahn gehört. An dem roten Metalltor steht das Zeichen „Fu" – „Glück". Türen und Fenster sind verrammelt. Im September vergangenen Jahres wurde der Fall erneut vor Gericht verhandelt, diesmal vor dem Zweiten Mittleren Gerichtshof von Peking. Den chinesischen Gesetzen zufolge trägt eine staatliche Einheit die volle Verantwortung dafür, wenn auf ihren Grundstücken illegale Fabriken betrieben werden. Guo hatte die Hinterhoffabrik von einem Unterbüro der staatlichen Eisenbahn angemietet.

„Die Anwälte der Eisenbahn kamen erst am letzten Verhandlungstag ins Gericht", berichtet Vater Li von dem zweiten Prozess. Er trägt den gleichen grauen, etwas zu großen Anzug und braunen Strickpullover wie vor einer Woche. Lis Klage gegen die Eisenbahngesellschaft wird abgewiesen. Sie müsse einen ordnungsgemäßen Mietvertrag zwischen dem Eisenbahnbüro und Guo vorlegen, verlangten die Richter. Eine unmögliche Forderung: Wie sollte Li als Opfer und Klägerin an einen solchen Vertrag zwischen den beiden Beklagten kommen? „Ich glaube, dass die Rechtslage verbessert werden muss", sagt Lis Anwältin, Zhao Hui. Vater Li sagt: „Die Eisenbahn hat ihre Beziehungen zum Gericht spielen lassen."

700.000 Arbeiter werden jedes Jahr durch Unfälle invalide und verkrüppelt, berichten Chinas Staatsmedien. Die tatsächliche Zahl dürfte sehr viel höher liegen. Die verstümmelten Fabrikarbeiter sind der Preis für die billigen „Made in China"-Produkte, die sich überall auf der Welt in den Kaufhausregalen stapeln. Manche Industriegebiete in Südchina, in denen Wanderarbeiter billiges Spielzeug und Plastikprodukte herstellen, sind als „Finger-Abschneide-Dörfer" berüchtigt. Junge Männer und Frauen vom Land schuften dort an primitiven Maschinen, oft sieben Tage die Woche. Sicherheitsvorschriften gibt es nicht.

„Manche verlieren ihre Arm. Manche ein Bein. Einem wurden beide Arme und beide Beine abgetrennt", sagt der Anwalt Zhou Litai, der sich mit seiner Kanzlei in Chongqing auf Fabrikunfälle spezialisiert hat. Die Opfer seien meist jung. 20jährige Burschen und junge Frauen aus der Provinz, die in den Fabriken an der Küste ihr Glück suchen. Wenn eine Maschine einem Wanderarbeiter die Hand abhackt, drücken die Fabrikbesitzer ihm ein paar Tausend Yuan in die Hand und schicken ihn mit dem nächsten Zug zurück in die Provinz.

„Chinas Gesetze und Bestimmungen für Entschädigungszahlungen sind eigentlich gut", sagt Zhou. Das Problem sei, dass die lokalen Behörden sich nicht um die Gesetze kümmern. Um die Entschädigungszahlungen möglichst niedrig zu halten, würden manche Industriegebiete in Südchina ein künstliches niedriges Durchschnittseinkommen für die Berechnungen heranziehen. „Die lokalen Behörden und Gerichte sind absolut ungerecht", sagt Zhou. Rund 2000 verstümmelte Arbeiter haben Zhou und seine Dutzend Anwälte seit 1996 vor Gericht vertreten. Den Behörden ginge es nur um die Wirtschaftsentwicklung, um jeden Preis, erklärt Zhou. „Ich habe das Gefühl, dass die breiten Straßen und die luxuriösen Häuser auf dem Blut und dem Leben der Arbeiter gebaut werden."

Li sitzt in der kleinen Baracke, die sie mit ihren Eltern bewohnt. Die Wände und der Boden sind aus unverputztem Beton. Wasser zum Kochen und Waschen schöpft die Familie aus Plastikeimern. Zur Toilette gehen sie auf die Wiese hinter das Haus, auf der auch der Müll verstreut wird. Die Wohnanlage aus Backsteinhäusern wurde einst von der Eisenbahn gebaut. „Heimat der Arbeiter", steht auf dem rostigen Schild über dem Eingang. „Ich hoffe darauf, dass das Gericht noch anders entscheidet", sagt Li. Die Chancen dafür sind gering. Chinas Rechtssystem sieht für solche Fälle nur zwei Instanzen vor. Lis Anwältin will Revision einlegen.

Die Mutter schneidet Gemüse für das Abendessen klein. Li sitzt auf dem Elternbett, schaut untätig zu. Der rechte Ärmel ihrer Jacke hängt nutzlos herunter. Der Unfall hat ihre Zukunft zerstört. Als Krüppel gibt ihr niemand eine Arbeit. Wahrscheinlich wird sie nie heiraten können. „Was soll aus mir werden? Meine Eltern können sich nicht ewig um mich kümmern", sagt Li. Sie kämpft gegen die Tränen. Wie viel würde eine Armprothese kosten? „63.910 Yuan", sagt Li ohne zu überlegen. Sie kennt die Zahl aus dem Gedächtnis. In der Baracke am Stadtrand von Peking klingt sie wie ein Traum.

Erschienen in Frankfurter Rundschau

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