Das Tal der Alten

Das schweizer Birchermüsli stammt in Wirklichkeit aus dem Himalaja. In Hunza, einem verstreckten Tal in Nordpakistan, essen es die Menschen bis heute jeden Tag - und werden angeblich steinalt.

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Foto: Pinterest

HUNZA, Pakistan - Eigentlich lüftete sich das Geheimnis von selbst. Man könnte sogar sagen, dass sie plötzlich auf dem Tisch stand, die Lösung unseres Rätsel. Gerade hatte der alte Jawar Beg, auf der Holzveranda seines Hauses sitzend und in die Abendsonne blickend, von seiner Zeit bei der indischen Armee erzählt. Damals, als noch keine Straße ins Tal führte und man in die nächste Stadt drei Tagesmärsche zu Fuß unterwegs war. Als seine Majestät der „Mir von Hunza“ noch im hölzernen Baltit-Fort residierte und von dort oben sein kleines Fürstentum regierte. Wann das war? „So sechzig, siebzig Jahre ist das wohl her“, sagt Jawar. Dann springt er auf, der alte Mann, geht mit federnden Schritten in die Küche, kommt mit einer weißen Emailleschüssel zurück, die er auf den Tisch stellt. Bis zum Rand gefüllt mit getrockneten Aprikosen, Walnüssen, Mandeln. „Greifen sie zu, greifen sie zu. Das ist gut für die Gesundheit, das hält jung!“

Am dritten Tag war das. Zu einem Zeitpunkt, wie wir sagen müssen, als wir schon nicht mehr ganz bei uns waren. War es die dünne Höhenluft, die uns den Kopf schwindeln ließ? Tausende Meter über dem Meer, irgendwo im Himalaja, die Berge so hoch und gewaltig, dass ihre riesigen Schatten schon am Nachmittag die Erde verschlucken. War es die atemraubende Schönheit der Frühlingslandschaft? Die leuchtend grünen Felder mit den Obstbäumen, umgeben von den kahlen, kargen Felswänden der schneebedeckten Bergkuppen. Das unendliche Blau des Himmels. „Eine wagrechte Oase in einer senkrechten Wüste“, hatte ein Reisender einmal das Hunza Tal beschrieben.

Vielleicht muss man die Geschichte von Hunza, dem kleinen, versteckten Königreich im Himalaja, als ein Märchen erzählen. Es handelt von einem uralten Menschheitstraum, von der Suche nach dem ewigen Leben. Nach einem Dasein ohne Maschinen und Hektik, in Harmonie mit der Natur. 1878 war zum ersten Mal ein Europäer, der Engländer John Biddulph, in das versteckte Tal im heutigen Nordpakistan gekommen. Später nahmen Entdecker und Abenteurer den mühsamen und gefährlichen Weg über Bergepässe und durch Schluchten auf sich. In ihren Berichten schwärmten sie von einem Shangrila. Einem Ort, wo die Menschen „fröhlich in Harmonie“ lebten, wie ein französischer Gelehrter schrieb. Und was die Aufklärer der Gesundheitsbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts mehr faszinierte: Ein Ort, wo die Menschen scheinbar steinalt wurden. Ohne ausgebildete Ärzte, ohne Medizin schienen die Hunza weit über Hundert Jahre alt zu werden. Als das „Tal der Alten“ wurde Hunza berühmt. Und jetzt steht sie vor uns, die Lösung, und lässt uns leise auflachen: Eine Schüssel Müsli.

Aber beginnen wir am Anfang. Und auch der ist ein Rätsel. Bis heute weiß niemand, woher die Menschen im Hunza abstammen. Ihre Haut ist heller, als die der Pakistani, viele haben blonde Haare und blaue Augen. Vor langer Zeit soll einmal die Armee Alexander des Großen durch das Gebiet gezogen sein. Die zurückgebliebenen Soldaten seien die Vorfahren der Hunza, erzählt man sich. Fest steht, dass das Tal jahrhundertslang von der Außenwelt abgeschlossen war. Durch ein kompliziertes Bewässerungssystem hatten die Hunza die kargen Berghänge fruchtbar gemacht. In waghalsigen Höhen hatten sie - nur mit den Hörnern des Steinbocks als Werkzeug - Kanäle in die Felswände geschlagen, durch die bis heute das Gletscherwasser auf die Felder sprudelt. Ein kleiner, autarker Staat entstand. Das Leben war einfach. Alle hatten mehr oder weniger das gleiche: Getreide, Gemüse und viel getrocknetes Obst für das Bauernvolk. Etwas mehr Butter und Milch für die Familie des Mirs. Niemand musste hungern, niemand wurde reich.

Nur selten verirrten sich Reisende in die Gegend - zu mühsam und gefährlich war der Aufstieg in das von 7000 Meter hohen Bergkuppen eingekesselte Hochtal. Die Menschen in Hunza verließen praktisch nie ihre Felder, man hielt sich versteckt. Während ein paar Dutzend Kilometer weiter, in Gilgit, schon Mitte des 19. Jahrhunderts die Engländer mit den Russen im „Great Game“ um die strategische Vorherrschaft in Asien stritten, blieb das kleine Reich der Hunza lange unbemerkt. Ein Stoßtrupp der britischen Armee, der 1892 das Baltit-Fort eroberte, zog nach fünf Jahren wieder ab. Hunza blieb eine Märchenlandschaft mit elfenhaften Bewohnern, die kaum jemand aus dem Westen mit eigenen Augen gesehen hatte. „Ihre Haut ist so dünn“, schrieb der Entdecker Gottfrey Vigne über die Hunza-Menschen. „Wenn sie trinken, kann man das Wasser in ihren Adern fließen sehen.“

Es dauerte bis 1958, als Hunza plötzlich aus seiner Abgeschiedenheit gerissen wurde - die erste Jeeppiste in die heutige Provinzhauptstadt Gilgit wurde freigeschaufelt. In acht Stunden konnte man nun an guten Tagen die rund 100 Kilometer schaffen - vorausgesetzt, dass es nicht regnete und Schlammlawinen die Straße wegschwemmten. Kurz vorher war zum ersten Mal ein Hubschrauber in Karimabad, dem Hauptdorf des Hunza-Tals, gelandet. „Die Frauen hatten sich vor Angst in den Häusern versteckt“, erinnert sich der alte Jawar. Dann ging alles sehr schnell. 1978 wurde der erste Teil des Karakorum Highways - der ersten Passstraße zwischen Pakistan und China - fertiggestellt. Eine Meisterleistung der Ingenieure. 15.000 Pakistani und 20.000 Chinesen hatten mehr als zehn Jahre an der 1200 Kilometer langen Strecke über den Kunjerab Pass geschuftet. Plötzlich war Hunza über eine Asphaltstraße mit der Neuzeit verbunden. Mitte der Achtziger Jahre hielt zum ersten Mal ein Bus in Karimabad, aus dem merkwürdige, schwerleibige Europäer stiegen. „Sie hatten Fotoapparate um den Hals und Mützen auf den Kopf“, erzählt Jawar. Hunza wurde Touristenattraktion.

Links und rechts der Hauptstraße von Karimabad empfangen heute Restaurants und Teppichgeschäfte den Reisenden. Aus großen Kühltruhen verkaufen die Dorfbewohner Softdrinks und Schokoriegel, die mit Lastwagen aus der Ebene herangekarrt werden. Das größte und prächtigste Hotel am Ort, das „Darbar“, wird vom Mir höchstpersönlich geführt. Seit er 1974 seine Macht endgültig abgeben musste und Hunza ein administrativer Landkreis von Pakistan wurde, betätigt sich der einstige Herschersohn als Geschäftsmann. Der Tourismus hat dem einst abgeschiedenen Tal zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. Im Frühjahr sind es die Japaner, die zur Aprikosenblüte anreisen. Im Sommer kommen die Rücksacktouristen aus Europa und den USA. An wolkenlosen Tagen fliegt heute eine zweimotorige Maschine von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad zwischen schneebedeckten Bergspitzen das Indus-Tal entlang nach Gilgit. Von dort sind es zwei bis vier Stunden mit dem Minibus nach Hunza - je nachdem, wie schnell der Fahrer, der ständig die Hauptstraße auf und ab fährt, genügend Leute eingesammelt hat. Die letzten paar Hundert Meter, den Aufstieg vom Fluss nach Karimabad geht es zu Fuß.

Sanft windet sich der schmale Weg durch die Obstgärten, die von sorgfältig angelegten Bewässerungskanälen durchzogen sind. Eine Landschaft wie in den bayerischen Alpen - mitten in Asien. Die Holzhäuser, niedrig und mit bunten Blumen davor. Links und rechts grenzen Lattenzäune die Felder ab. Pappeln und Birkenalleen säumen die Terrassen. Kein Staub und Dreck, der in Gilgit noch das Atmen mühsam gemacht hatte. Wie leicht muss es für die ersten Endecker gewesen sein, in dieser europäisch anmutenden Bergwelt ins Schwärmen zu geraten? „Essen und Weideland sind reichlich“, schrieb 1938 die Forscherin Emily Lorimer. „Jedes Gesicht, das man sieht, blickt ausgeruht und selbstsicher, jederzeit bereit, in ein breites Lächeln auszubrechen. (...) Schwere Verbrechen sind unbekannt, und sogar Diebstahl und kleine Gaunereien sind nicht-existent, obwohl es in diesem Land weder Gefängnisse noch eine Polizei gibt.“

Wir beginnen die Suche ganz oben, beim Baltit-Fort. Vor ein paar Jahren wurde es renoviert und zu einem Museum umgebaut. „Das Geheimnis des langen Lebens? Deshalb kommen sie alle“, sagt Ejaz Ullah Baig und blickt etwas spöttisch von der Terrasse über die verwickelten Gassen von Karimabad. Baig ist der Kurator des Museums, und weil er früher in Karachi studiert hat, ist er für viele hier so etwas wie der Dorfgelehrte. Mit seinem verzwirbelten Schnurbart und dem langen Gewand sieht er wie ein indischer Magier aus einem Schwarzweiß-Film aus. Eine „romantische Verklärung“ sei vieles, was über Hunza geschrieben wurde, sagt Baig. Die angeblichen Harmonie zum Beispiel. Auch in Hunza sei in der Vergangenheit leidenschaftlich und blutig um die Macht gekämpft worden. „Sehen Sie da drüben, auf der anderen Seite des Flusses. Das ist Nagar“, sagt er und deutet auf die Häuser im Tal gegenüber, die umgeben von Obstgärten wie ein Spiegelbild von Hunza aussehen. Über Jahrhunderte seien die beiden Fürstentümer, nur durch einen Fluss getrennt, verfeindet gewesen. Wenn früher hoher Besuch nach Hunza kam, habe der Mir Soldaten nach Nagar geschickt, um ein paar Sklaven zu entführen. „Die wurden dann dem Gast als Begrüßungsgeschenk übergeben.“

Und die Geschichte vom langen Leben? Den vielen Hundertjährigen, die in Hunza leben sollen? „Da ist viel Wahres dran“, sagt Baig. Eine Nachbarin, die alte Bigim, sei im Februar im stolzen Alter von 111 Jahren gestorben. Sein Vater, ein ehemaliger Minister des Mirs, wurde 99, der Großvater über 100. In anderen Familien sei es ähnlich. „Es liegt eine Wahrheit in dieser Geschichte vom langen Leben.“ Durch die lange Isolation, erzählt er, seien Viren, Seuchen und andere Krankheiten nie nach Hunza gekommen. Weil es praktisch aber keine Medizin gab, starben die meisten Hunza schon im Säuglingsalter. „Nur die Stärksten überlebten, und deren Gene waren dann so gut, dass sie uralt wurden.“ Als habe er schon zuviel verraten, fügt er schnell hinzu: „Das ist nur eine Möglichkeit, bewiesen ist das nicht.“

Vor einigen Jahren hat Ejaz Baig damit begonnen, die Geschichte der Hunza aufzuschreiben. Er besuchte die Greisen in ihren Häusern, ließ sie erzählen. „Die Menschen lebten hier früher praktisch ohne Stress“, sagt Baig. Die Felder waren mehr oder weniger gleich groß, es gab kaum Verteilungskämpfe. Ohne den Einfluss der Außenwelt blieb das Leben überschaubar und gleichtönig - die ideale Voraussetzung, für ein hohes Alter. Und dann sei da natürlich noch die Ernährung. „Viele glauben, dass das Gletscherwasser uns so alt macht“, sagt Baig. Es habe sogar einmal eine wissenschaftliche Untersuchung gegeben, um die Schwebeteilchen zu untersuchen. „Aber die haben nichts herausgefunden.“ Fleisch war rar im alten Hunza. Nur wenn die Männer in den Bergen einen Steinbock erlegten oder mal eine Ziege geschlachtet werden musste, gab es Abwechslung in der eintönigen Kost aus getrockneten Früchten, Getreidesuppe und Nüssen. „Aus heutiger Sicht war das eine ideale Ernährung.“ Aber, sagt Baig, das seien alles nur Theorien. „Das Geheimnis von Hunza muss man selbst entdecken.“

Man schickte uns zu Shanawar Kahn. Mit 67 ist er in Hunza zwar noch kein alter Mann. Aber er ist der Klanchef der Diramiting Sippe, zu der rund 200 Familien im Tal zählen, und der Klanchef ist in Hunza immer die erste Anlaufstelle. „Die Leute hier sind gesünder und kräftiger als draußen“, sagt Kahn. Als junger Mann, 1950, ging er zur pakistanischen Armee und weil er so groß und athletisch war, stellte man ihn sofort in das Fußballteam. Er sei viel rumgekommen damals, erzählt er. „Aber ich habe nie einen Ort gefunden, wo das Leben so friedlich ist wie hier.“ Sieben Söhne - zwei davon arbeiten heute als Bergführer für Extremexpeditionen am Mount Everest - fünf Töchter und ebenso viele Enkel gehören zu seiner Familie. Sein jüngster Sohn, gerade 18 geworden, bringt eine Schüssel mit Knabbereien - Nüsse und getrocknete Aprikosen.

Den Posten des Klanchefs erbte Kahn von seinem Vater. Wenn sie in der Sippe Streit haben, kommen sie zu ihm. „Sie wissen schon, wenn die junge Ehefrau mit der Schwiegermutter nicht klar kommt“, sagt Khan mit einem Lächeln. Manchmal gebe es auch Ärger zwischen Nachbarn, um Wasser- und Bodenrechte. Die Polizei würde in Hunza niemand rufen. Khan schlichtet nach den alten Regeln: Ein Haus dürfe nur so hoch gebaut werden, dass „der Schatten nicht auf die Felder des Nachbarn fällt“. Bei Ehestreitigkeiten versucht er zu vermitteln. „Wissen Sie, was der Unterschied zu ihrem Land ist?“, fragt Kahn. In Hunza gewinne jemand mit dem Alter an Ehre und Respekt. Wenn die Familien abends vor der Feuerstelle zusammen essen, bekommen die Alten die erste und größte Portion. „Je älter man wird, desto mehr Verantwortung bekommt man.“ Das sei alles, das halte ihn jung. Mit seiner von der Bergsonne gebräunten Haut und den markanten Gesichtszügen unter den eisengrauen Haaren könnte Kahn tatsächlich auch als besserer 40jähriger durchgehen. Also gibt es kein Geheimnis für seine Jugend. Khan grinst: „Letztes Jahr habe ich mir in der Stadt neue Zähne machen lassen.“

Habib Ullah ist alt - steinalt. In eine Wolldecke gehüllt liegt er neben der Feuerstelle auf dem Boden. Es riecht nach Urin. Hundert Jahre soll er alt sein, genau weiß das niemand. Ein Geburtenregister gab es damals nicht. Habibs Augen sind wässrig, sein Haut ist ledrig und von unsichtbaren Fäden überzogen. Als er zu reden versucht, kommt nur ein Stöhnen über seine Lippen. „Mmmmpff, Mmmmpff.“ Einst war Habib der Leibwächter des Mirs. „Er war ein ganzer Kerl, er konnte einen Steinbock mit der bloßen Hand erlegen“, erzählt seine Frau Nani und versteckt ihren zahnlosen Mund hinter einem Tuch. Heute liege Habib die meiste Zeit nur noch in der Ecke neben dem Herd. Manchmal, an guten Tagen, lasse er sich von seiner Tochter abstützen und schafft die paar Meter auf die Terrasse vor dem Haus. Hat er Krankheiten. „Er sieht fast nichts mehr, aber sonst ist er gesund“, sagt seine Frau. Plötzlich wird Habib unruhig. Unendlich langsam erhebt der Greis seinen Oberkörper und winkt den Besucher mit der zittrigen Hand zu sich. Sein Atem ist schwer und riecht nach Moder, als er zu sprechen beginnt. Die Stimme nur ein Hauchen. „Ich war wie ein Vogel, nur ohne Flügel“, flüstert er. Einen Moment scheint er eingeschlafen zu sein. Dann spricht er noch einmal: „Unsere Knochen...“, beginnt er und holt tief Luft: „Unsere Knochen sind aus Aprikosenöl.“

Vielleicht hätten wir da schon nicht mehr mit Jawar Beg reden müssen. Diesem 93jährigen, der, als wir ihn am nächsten Tag treffen, von seiner Gartenarbeit aufspringt und scheinbar mühelos ein paar schwere Holzstühle zusammenrückt. Wahrscheinlich hätten wir ihm alles geglaubt, diesem jungen Alten, der noch jeden Tag an seinen Obstbäumen arbeitet, der jede Minute seine Lebens im Gedächtnis zu haben scheint. Als Jawar Beg die Schüssel auf den Tisch stellt, ist plötzlich alles klar: Getrocknete Aprikosen, Walnüsse, Mandeln, Hafer. Das Geheimnis der Hunza - ein einfaches Müsli, wie es jeden Morgen auf Millionen Frühstückstischen steht. Für die Menschen in dem Hochtal sei das schon immer die Hauptnahrung gewesen, erzählt Jawar. Statt mit Milch werde die trockene Speise meist mit Wasser aufgeschwemmt. Drei Dutzend verschiedene Aprikosensorte gebe es in Hunza, erzählte uns Jawar. Besonders gesund sei auch das Öl, das bis heute aus den Aprikosenkernen gepresst wird. Zum Abendessen werde es mit Brot getunkt. „Ein reineres Lebensmittel gibt es nicht.“

War es die dünne Höhenluft, die uns den Kopf schwindeln ließ? Tausende Meter über dem Meer, irgendwo im Himalaja. Die atemraubende Schönheit der Frühlingslandschaft? Die leuchtend grünen Felder mit den Obstbäumen. Das unendliche Blau des Himmels. Spätestens zu dem Zeitpunkt war klar, dass Hunza auch uns in seinen Bann gezogen hatte. Wie schon so viele vor uns.

Im Januar des Jahres 1900 hielt ein junger Arzt im Zunfthaus zur Saffran einen Vortrag vor der Züricher Ärzteschaft, um seine revolutionäre Ernährungstherapie zu verkünden. „Sonnenlichtnahrung“ nannte dieser Dr. Maximilian Bircher-Benner seine neue Rohkostnahrung. Das zunächst als Apfeldiätspeise bekannte Gesundheitsgericht wurde als „Bircher Müsli“ zu einem Welterfolg. Das Müsli wurde zum „berühmtesten Beitrag der Schweiz zur internationalen Küche“, wie man in Zürich gerne betont. Dabei war auch Bircher nur der Legende von dem glücklichen Hunza verfallen. Der schottische Arzt Sir Robert McCarrison hatte als erster das Phänomen der Langlebigkeit der Hunza wissenschaftlich untersucht und veröffentlicht: „Ungekochte Nahrung bildet einen Hauptteil der täglichen Kost. Fleisch und Wein werden bei seltenen Gelegenheiten konsumiert. Die Nahrung ist im Ganzen knapp.“ Bircher, der selbst nie in Hunza war, glaubte bis zum Schluss an diesen Traum. „Wie heißt es, jenes Volk, das keine Krankheiten kennt?“, soll er 1939 auf seinem Totenbett gesagt haben. Drei Jahre später veröffentlichte sein Sohn, Ralph Bircher, das Geheimnis des Müsli-Erfinders in einem Buch. Der Titel: „Hunza - Das Volk, das keine Krankheiten kennt.“

Erschienen im Tagesspiegel

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