Die Zwerge von Lhasa

Sie sind kleinwüchsig, haben ständig Schmerzen: Zehntausende Tibeter leiden unter der rätselhaften „Großen Knochen Krankheit“. Es ist ein Zeichen der extremen Armut in dem Himalajaland.

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Foto: Harald Maass

NARME, Tibet - Das Dorf Narme, zwei Autostunden nordöstlich von Lhasa, liegt in einem idyllischen Tal. Auf den Dächern der Häuser flattern Gebetsfahnen. Die Gehege für das Vieh sind mit Steinmauern umfriedet, vor denen Kinder spielen. Doch über Narme und den 46 Bauernfamilien, die hier leben, liegt ein Schatten. „Im Boden sind böse Geister“, sagt Targyel, der alte Dorfchef, durch die große Zahnlücke in seinem Gebiss. Die Haare über seinem faltigen Gesicht sind zu einem Zopf geflochten. Langsam kommen aus den Häusern die Dorfbewohner. Verkrüppelte Frauen, die kaum größer als Kinder sind. Humpelnde Männer, auf Holzstöcke gestützt, mit aufgequollenen Gelenken. Narme ist ein Dorf der Zwerge.

„Rutsik chemone“ nennen es die Tibeter – die „Große Knochen Krankheit“. Sie beginnt im Kleinkindalter. Die Gelenke an den Knien und Armen schwellen an. Die Kinder klagen über Schmerzen. Später verformen sich die Knochen, das Wachstum hört auf. Manche der Betroffenen werden kaum ein Meter groß. Ihre Körper sind so verkrüppelt, dass sie nur noch am Stock gehen können. Sie leben mit ständigen Schmerzen. Schätzungsweise 30.000 Tibeter leiden unter dieser Krankheit, die im Westen als Kashin-Beck bekannt ist. Oft sind ganze Dörfer befallen: Die Bauern können nicht mehr auf den Feldern arbeiten, die Familien verarmen. Helfen kann ihnen niemand. Für Ärzte und Wissenschaftler ist Kashin-Beck bis heute ein Rätsel.

„Ich habe mein ganzes Leben nicht arbeiten können“, sagt Bukchun. Der 50jährige Zwerg hat das Gesicht eines Greisen. Sein schwarzer Umhängemantel ist am Saum ausgefranst, die Stoffschuhe löchrig. Weil das Getreide nicht für seine Familie reicht, fährt er jedes Jahr im Juni nach Lhasa, um auf der Straße zu betteln. „Sonst müssen wir hungern“, sagt Bukchun und führt uns in das Bauernhaus, in dem er mit seiner Frau und zwei erwachsenen Kindern lebt. An der Wand stapeln sich die Dungfladen der Yaks, mit denen die Familie den kleinen Eisenofen in der Küche heizt. Auf dem Fenstersims steht ein altes Radio, die Plastikanzeige ist zerbrochen. Es ist der einzige sichtbare Besitz der Familie. Manchmal, wenn die Schmerzen zu groß seien, gehe er in die Sanitätsstation im Nachbardorf, um sich Schmerzmittel geben zu lassen. 50 Yuan kostet die Behandlung, umgerechnet fünf Euro. Meistens hat Bukchun jedoch kein Geld dafür.

Kashin-Beck wurde vor 150 Jahren von zwei russischen Ärzten in Sibirien entdeckt, die der Krankheit auch ihren Namen gaben. Heute tritt Kashin-Beck nur noch in einigen entlegenen Winkeln Asiens auf, am weitesten verbreitet ist sie in Tibet. Einer Regierungsuntersuchung zufolge ist die Krankheit in 45 von 73 tibetischen Landkreisen endemisch. 450.000 Kinder leben in diesen Risikoregionen. Die lokalen Behörden in Tibet versuchen seit Jahren vergeblich, die Krankheit zurückzudrängen. Hunderte Dörfer in vermeintlich bessere Ackergebiete zwangsumgesiedelt. Eines davon war Narme. Trotzdem breitet sich die Krankheit weiter aus.

„Kashin Beck ist eine Krankheit der Armut“, sagt Francoise Mathieu von der Kashin-Beck-Stiftung in Belgien. Mathieu erforscht seit 15 Jahren die Krankheit und arbeitet dazu mit Labors in Europa und China zusammen. Obwohl es noch nicht gelungen sei, die Ursache der Krankheit eindeutig zu bestimmen, sei ein wichtiger Grund Mangelernährung, sagt sie. Ein halbes Jahrhundert nach dem Einmarsch Chinas in dem Himalajaland leben viele Tibeter bis heute in unvorstellbarer Armut. Die Menschen besitzen oft nur eine Garnitur Kleider. Ihr Essen besteht vor allem aus Tsampa, dem tibetischen Getreidegericht. „Viele der Kinder leiden unter Mangelernährung“, sagt Mathieu.

Mit einer seit 2004 laufenden Feldstudie im Landkreis Lhasa versucht die Kashin-Beck-Stiftung der rätselhaften Krankheit auf die Spur zu kommen. Dazu wurden 1069 Kinder im Alter von drei bis acht Jahren in 51 Dörfern ausgewählt. Die Hälfte bekommt jeden Tag eine Tablette mit Spurenelementen und Jod, von der die Forscher glauben, dass sie den Ausbruch der Krankheit verhindern können. Die andere Hälfte erhält ein Placebo ohne Wirkungsstoffe. „Natürlich ist das etwas hart und unfair. Aber es ist die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, ob die Tabletten wirken“, sagt der Projektkoordinator Rinzin Wangla.

Wangla arbeitet mit einem kleinen Team von zehn Leuten, alle sind Tibeter. Als ihr weißer Geländewagen an diesem Mittag über die Steinpiste in Narme einrollt, laufen die Dorfbewohner aus ihren Häusern. Selbst im Umland von Lhasa gibt es kaum medizinische Versorgung. Kyikyi, eine 39jährige Bauersfrau, deren Gesicht vorzeitig gealtert ist, berichtet über die Schwierigkeiten ihrer Geburt. Auch sie leidet unter der "Großen Knochen Krankheit", ihr Ellbogen gleicht einer Kugel. Weil ihr Hüftbecken verschoben sei, habe sie ihr Kind im Stehen zur Welt bringen müssen, sagt sie. „Oft sterben die Frauen und die Kinder bei der Geburt“, erklärt Wangla.

Die Feldstudie ist für Wangla und sein Team nur ein kleiner Teil ihrer Arbeit. Insgesamt betreuen sie 86 Dörfer im Umland von Lhasa. Die Menschen leben dort wie im Mittelalter. Weil die Eltern ihre Kleinkinder kaum an die Sonne lassen, ist Vitaminmangel verbreitet. Die Bauern lagern ihr Gerste in dunklen, feuchten Räumen auf dem Boden, wo sich Schimmelpilze bilden. Einige dieser Pilze, so vermuten die Forscher, könnten zusammen mit Mangelernährung ein Auslöser für Kashin-Beck sein. „Wir sind ziemlich sicher, dass die Ursache für diese Krankheit aus mehreren Faktoren besteht“, meint Mathieu. Die Stiftungsmitarbeiter bringen den Bauern bei, wie sie ihr Getreide trocken auf einem Eisenrost lagern und die Wände mit Kalk weißeln – das soll das Wachstum der Pilze verhindern.

Targyel, der Dorfchef, zeigt stolz eine Maschine vor seinem Haus, mit der die Bauern neuerdings das Saatgut mit Pestiziden behandeln. Es ist eine rote Eisentonne mit verschließbarer Öffnung, die auf einer drehbaren Achse gelagert ist. In der Tonne wird das Saatgetreide mit den Chemikalien vermischt. „Wir sagen den Bauern, dass sie 60 Mal drehen sollen“, erklärt Wangla, dessen Team die Maschinen entworfen hat. Jede kostet nur ein paar Hundert Yuan. Den Bauern bringen sie jedoch eine gesündere und bessere Ernte.

Ende des Jahres gehe der Feldversuch zu Ende, erklärt Wangla. Die Ergebnisse werden Mitte 2008 bereit stehen. Möglicherweise wissen die Forscher um Frau Mathieu dann mehr über die Ursachen von Kashin-Beck. Auf jeden Fall hofft man, mit den Mineraltabletten ein Mittel gefunden zu haben, um die Krankheit aufzuhalten. „Wir sind optimistisch“, sagt Wangla. Er will das Programm auf andere Dörfer ausweiten. Doch noch hat die Stiftung, die sich mit privaten Spenden finanziert, keine Sponsoren für das nächste Jahr. „Wenn wir das Geld nicht zusammen bekommen, müssen wir schließen“, sagt Mathieu. Bevor der Jeep mit den Helfern Narme verlässt, bringt eine Mutter ihren dreijährigen Sohn, setzt ihn auf eine Steinstufe. Er heißt Tenzin. „Er klagt jede Nacht über Schmerzen“, sagt sie. Wangla und ein Helfer tasten die Gelenke des Jungen ab. Sie sind geschwollen.

Erschienen in Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau

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