Rolle rückwärts

Lange Zeit galt es als selbstverständlich, dass sich die Demokratie als Regierungsform immer weiter ausbreitet. Doch seit einiger Zeit hat sich der Trend umgekehrt. Die Welt erlebt die Rückkehr autoritärer Regime. Und ausgerechnet die Digitalisierung hat einen großen Anteil daran.

von Harald Maass

Foto: picture-alliance

Als vor 16 Jahren der Grundstein für das neue Parlament von Afghanistan gelegt wurde, ein prächtiger Kuppelbau im Süden Kabuls, waren die Hoffnungen groß. Mohammed Zahir Schah, der letzte afghanische König, war nahm im betagten Alter von 90 Jahren an der Zeremonie teil, um nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges und der Gewaltherrschaft die Demokratisierung seines Landes zu unterstützen. Hier werde das „Herz der Demokratie Afghanistans“ entstehen, sagte Indiens Premierminister Manmohan Singh, dessen Land den 200 Millionen Dollar teuren Bau finanzierte.

Seit vier Wochen steht das Parlament leer. Auf der Webseite sieht man noch die Bildern vom letzten Besuch von Präsident Aschraf Ghani, der sich kurz darauf ins Exil absetze. Die meisten der Volksvertreter sind geflüchtet. „Wir fürchten um unser Leben", sagt die Abgeordnete Farzana Kochai.

Der überraschend schnelle Sturz der afghanischen Regierung durch die Taliban in diesem Sommer, in nur neun Tagen hatten die radikal-islamistischen Kämpfer das Land überrannt und 18 Provinzhauptstädte erobert, ist nicht nur ein militärisches Debakel für die USA und ihre Verbündeten. Der kaum vorhandene Abwehrkampf der Regierungstruppen und die geringe Gegenwehr der Bevölkerung haben der Welt erneut vor Augen geführt, dass das Konzept des Nation Buildings gescheitert ist. Trotz 2,3 Billionen Dollar an Hilfsgeldern und Militärausgaben ist es der Staatengemeinschaft in zwei Jahrzehnten nicht gelungen, stabile staatliche Strukturen oder gar eine Demokratie aufzubauen. Schlimmer noch: Offenbar hat eine Mehrheit der Afghanen die gesellschaftlichen Verbesserungen, etwa bei den Frauenrechten, als nicht so erhaltens- oder schützenswert eingestuft, dass sie dafür zu kämpfen bereit gewesen wären. Nach der Niederlage am Hindukusch muss der Westen sich deshalb auch fragen: Hat die Demokratie ihre Anziehungskraft verloren?

Demokratie auf dem Rückzug

Nach einem fast zwei Jahrhunderte dauernden Siegeszug, beginnend mit der Einführung des Wahlrechts in den Vereinigten Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts, ist die Demokratie heute auf dem Rückzug. Francis Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion der Liberalismus durchsetzen werden, war im Rückblick falsch. Zwar gibt es auf der Welt noch immer mehr formale Demokratien als vor einem halben Jahrhundert. Doch spätestens seit Anfang des Jahrtausends registrieren Forscher einen deutlichen Rückgang sowohl bei der Anzahl demokratischer Staaten als auch in der Qualität der demokratischen Rechte der Menschen. Nach Angaben des Freedom House, einer NGO mit Sitz in Washington, gab in jedem der vergangenen 15 Jahren jeweils mehr Länder, die einen Verlust an Demokratie und politischen Rechten verzeichneten als Länder mit Zugewinn. Im aktuellen Lagebericht unter dem Titel „Demokratie im Belagerungszustand“ werden weltweit nur noch 82 Demokratien gezählt – sieben weniger als 2005. Gleichzeitig ist die Zahl der autoritären Länder in dem Zeitraum 45 auf 54 gestiegen.

Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Der Demokratie-Index der britischen Economist Intelligence Unit, der aus einer Vielzahl von Einzelfaktoren zusammensetzt ist, misst im aktuellen Bericht den „mit Abstand niedrigsten“ globalen Demokratiestand seit dem Beginn der Untersuchungen 2006. Zwei Drittel der Menschheit lebt mittlerweile in einem politischen System mit autokratischen Tendenzen, so das Ergebnis einer Untersuchung des schwedischen V-Dem Instituts. Die globale Demokratie sei in einer „tiefen und sich beschleunigenden Krise“, urteilt der US-Soziologe und Demokratieforscher Larry Diamond von der Stanford University.

Der klassische Staatsstreich ist ein Auslaufmodell

Das verwackelte Video zeigt ein Dutzend Taliban-Kämpfer, viele mit schwarzem Turban und einem Gewehr über die Schulter gehängt, die grinsend im Präsidentenpalast stehen und Selfies vor dem Schreibtisch machen, an dem wenige Stunden zuvor noch der geflüchtete afghanische Präsident gesessen hatte. Es war dieses Bilder, die am 15. August den Fall Kabuls und das Ende der Republik markierten.

Auch wenn sich die Taliban in ihrer Propaganda als Befreier präsentieren, war es am Ende ein Putsch, der die Demokratisierung Afghanistan beendete. Guinea, Tunesien, Sudan, Zimbabwe, Yemen, Thailand – immer wieder wurden in den vergangenen Jahren Demokratien durch Staatsstreiche beendet. Im westafrikanischen Mali, wo Deutschland ebenfalls im Rahmen einer Nato-Mission rund 1000 Soldaten stationiert hat, putschte sich das Militär innerhalb von zehn Monaten gleich zwei Mal an die Macht. Die Bevölkerung leidet unter Korruption und einem sich ausbreitenden Terror.

Ernüchternd ist auch das Beispiel Myanmar. Jahrzehntelang hatte der Westen mit Diplomatie und Sanktionen darauf hingearbeitet, die Militärdiktatur in dem asiatischen Land zu beenden. Die Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi galt als Demokratiekämpferin und Ikone des gewaltlosen Widerstands - eine globalen Berühmtheit, ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis.

Doch als das Land 2015 einen Demokratisierungsprozess startete und Aung San Suu Kyi zur de-facto-Regierungschefin aufstieg, kam es nach einer anfänglichen Phase der Freiheit rasch zu Rückschlägen. Die einstige Demokratiekämpferin Aung San Suu Kyi ließ zu, dass das Militär einen Völkermord an der Minderheit der Rohingya verübte. Plötzlich wurden wieder Journalisten verhaftet, weil sie kritisch über die Regierung berichteten. Ein Militärputsch im Februar beendete das Demokratie-Experiment endgültig. Proteste der Menschen schlägt das Militär mit Gewalt nieder, Menschenrechtsorganisationen berichten von mehr als tausend Toten.

So erschüttern die Bilder aus Afghanistan oder Myanmar sind, der klassische Putsch ist ein Auslaufmodell. Seit der Gründung der ersten Demokratien gab es immer wieder gewaltsame Gegen-Coups gegeben. Vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA und die Sowjetunion mit konkurrierenden politischen Systemen um die Vorherrschaft rangen, waren Staatsstreiche an der Tagesordnung. Allein in Thailand stürzte das Militär nach 1945 17 Mal die amtierende Regierung, zuletzt 2014.

Heute sind Staatsstreiche nicht nur seltener, sie sind meist auch weniger erfolgreich. Dafür hat sich eine neue, gefährlichere Form der Gefahr für Demokratien herausgebildet: die Bedrohung von innen. Demokratieforscher sprechen von „Democratic Backsliding“ – einem schleichenden Trend zur Autokratisierung.

Das Aushöhlen der Institutionen

Am 30. Juni 2020 trat in Hongkong ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Mit der Rechtsvorschrift, die erst wenige Stunden vor Inkrafttreten von Chinas Regierung im Wortlaut veröffentlicht wurde und bei der Hongkongs Bürger keinerlei Mitsprache hatte, schaffte Peking defacto den Rechtsstaat in der Millionenmetropole ab. Nach dem Gesetz können die Behörden jede Kritik an Chinas Herrschaft als Verbrechen ahnden – und das weltweit. Wenn irgendwo auf der Welt jemand einen kritischen Post über China schreibt - selbst, wenn er nie Hongkonger Boden betreten hat - , kann er verfolgt und bestraft werden. Für die Durchsetzung ist ein neues Sicherheitsbüro zuständig, dass an die Zentralregierung in Peking berichtet.

In nur wenigen Wochen wurde aus Hongkong, das sich einst für seine freie Presse und unabhängige Gerichte rühmte, zum Willkürstaat. Schon am Tag des Inkrafttretens des neuen Sicherheitsgesetzes nahm die Polizei zehn Demonstranten fest. Bald landeten die ersten Anführer der Studentenproteste hinter Gittern. Insgesamt wurden in den folgenden zwölf Monaten 117 Personen festgenommen und mehr als 60 Anklagen erhoben – Oppositionelle, Studenten, Journalisten, Akademiker. Abend für Abend sahen die Hongkonger im Fernsehen, wie nahezu alle noch verbliebenen demokratischen Stimmen in Handschellen abgeführt wurden.

„Wir erleben gerade den Tod von Hongkong“

Einer von ihnen war der Verleger Jimmy Lai, der die auflagenstärkste pro-demokratische Zeitung Apple Daily herausgebracht hatte. Vor einigen Wochen stürmten 500 Polizisten die Redaktion des Blattes und nahmen mehrere verantwortliche Redakteure fest. Mittlerweile ist Apple Daily geschlossen, die meisten Medien sind gleichgeschaltet, die Opposition zurückgetreten. Wer kann, flüchtet sich ins Ausland. 90.000 Hongkonger haben die Stadt innerhalb eines Jahres verlassen. „Ich denke, wir erleben gerade den Tod Hongkongs“, sagt der chinesische Cartoonist Badiucao, der in Australien lebt.

Unter dem Motto „Ein Land, zwei Systeme“ war den 7,5 Millionen Menschen in Hongkong einst weitgehende Autonomie versprochen worden, als die Stadt 1997 von Großbritannien zurück an China fiel. Freie Wirtschaft, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und die Selbstverwaltung der Metropole durch Hongkonger – all das sollte für mindestens 50 Jahre erhalten bleiben, als der letzte britische Gouverneur auf der königlichen Yacht Britannia aus dem Hafen segelte.

Doch während man im Ausland noch auf eine Zukunft Hongkongs als freie Gesellschaft setzte, höhlte China schon Schritt für Schritte die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen der Stadt aus. Anfangs vor allem durch wirtschaftlichen Druck. Wenn Unternehmen weiter Geschäfte im Festlandchina machen wollten, durften sie keine Anzeigen mehr in kritischen Medien schalten oder pro-demokratische Parteien unterstützen. Dann nahm Peking sich die Schulen und Universitäten vor, die patriotische Inhalte und Lobeshymnen auf die Kommunistische Partei in den Lehrplan aufnehmen mussten. Schließlich wurden die Spitzen von Polizei, Justiz, Behörden und Medien durch Peking-Befürworter ersetzt. Als China schließlich das neue Sicherheitsgesetz installierte, waren die Institutionen bereits enthöhlt. Im Demokratie-Index der steht Hongkong nur noch auf Platz 87 - hinter Ländern wie Butan, Madagaskar und Senegal.

Heute Hongkong – morgen Ungarn oder Polen?

Man kann Hongkong als Sonderfall sehen. Eine durch die Kolonialgeschichte entstandene weltpolitische Anomalie, die nun durch das mächtige China wieder korrigiert wird. Man kann die Entwicklung aber auch als Fallbeispiel sehen, wie schnell rechtsstaatliche Institutionen und Strukturen geschwächt und am Ende die Freiheiten einer Gesellschaft zerstört werden können. „Ironischerweise erleben wir jetzt Formen von einer Entdemokratisierung, die genau durch diese Institutionen legitimiert werden, die von den Befürwortern der Demokratie priorisiert wurden“, sagt die Oxford-Politologin Nancy Bermeo. Eine Entwicklung, die auch in Europa zu beobachten ist. In nur einem Jahrzehnt hat Victor Orbán die demokratischen Strukturen Ungarns so stark beschnitten, dass das Land aus Sicht von Demokratieforschern nur noch als „teilweise frei“ gilt. Die Pressefreiheit ist eingeschränkt, ebenso wie das Justizsystem und Grundrechte der Menschen.

Ähnlich die Entwicklung in Polen, wo die EU mittlerweile die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr sieht: „Infolge der Justizreformen in Polen steht die Justiz des Landes nun unter der politischen Kontrolle der regierenden Mehrheit." Gegen beide Länder, Ungarn und Polen, hat die EU Strafverfahren eingeleitet. „Hier geht es darum, in was für einem Europa wir leben wollen. Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz, Anerkennung von Gerichtsurteilen, freie Medien. Diese Werte verbinden uns“, mahnt Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen.

Gilt die Formel noch: Demokratie = Wohlstand?

Wer heute in Chinas Metropolen durch das Nachtleben zieht, erlebt ein Volk, das sich feiert. In Designer-Labels gekleidet trinkt man Champagner und Cognac, oft für umgerechnet mehrere Tausend Euro pro Flasche. Im Shanghaier Luxusviertel Xintiandi, wo Mao Zedong vor einem Jahrhundert die kommunistische Partei Chinas gegründet hatte, war ein Tanzclub dafür bekannt, dass unter den Sofas eine hydraulischen Mechanik verbaut war. Je mehr Geld der Gast ausgab, desto höher stieg er in Richtung Saaldecke – Chinas Aufstieg als Wettkampf der Statussymbole. Gäste für diese Art der Unterhaltung gibt es zuhauf. In Peking leben heute mehr Milliardäre als in New York, die Immobilienpreise liegen auf dem Niveau von London.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schaffen Wohlstand. Lange galt dieser Zusammenhang als unumstößlich. „Nimm das Recht weg, was ist ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, sagte der heilige Augustinus. Acht der zehn reichsten Länder der Welt, gemessen an der Wirtschaftskraft pro Einwohner, sind Demokratien – an der Spitze stehen Luxemburg, Schweiz, Irland und Dänemark.

China als Wachstumsmaschine

Schaut man jedoch auf die wirtschaftliche Dynamik, zeichnet sich ein anderes Bild. Kein Land hat in den vergangenen Jahrzehnten so viel materiellen Wohlstand für so viele Menschen geschaffen wie das autoritär geführte China. Wofür Amerika einst 80 Jahre benötigte, schaffte China in nur zwei Jahrzehnten. Seit der von Deng Xiaoping Ende der 1970er gestarteten Reform- und Öffnungspolitik hat die KP Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut geführt und eine Wirtschaftsmaschinerie aufgebaut, um die Welt sie beneidet. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit der Öffnung fast verhundertfacht, der Außenhandel stieg um das 240-fache. In dem einst bettelarmen Land leben heute mehr als fünf Millionen Dollar-Millionäre.

China hat der Welt gezeigt, dass sich mit autokratischen Mitteln sehr wohl wirtschaftlicher Aufschwung erzeugen lässt. Während die Sowjetunion einst auch an ihrer Mangelwirtschaft zugrunde ging, bereitet sich China darauf vor, den Westen wirtschaftlich zu übertrumpfen. Für Peking ist Wirtschaftswachstum eine Waffe im Kampf der Systeme. „Die USA, die durch systemische Probleme behindert sind, können mit China nicht konkurrieren“, kommentiert die Staatszeitung Global Times. „Das kometenhafte Wirtschaftswachstum der letzten vier Jahrzehnte zeigt, dass Chinas System fortschrittlicher ist.“ In spätestens zehn Jahren, so die Prognose des Wirtschaftsdienstes Bloomberg, dürfte China die USA als größte Volkswirtschaft der Erde ablösen – einen Platz, den Amerika mehr als ein Jahrhundert eingenommen hat.

Was Pekings Propagandisten jedoch verschweigen: Chinas autoritärer Staatskapitalismus hat nicht nur viel Wohlstand geschaffen, sondern auch enorme Ungleichheit. Gemessen am Gini-Koeffizienten, mit dem Wissenschaftler die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft messen, ist die Kluft zwischen Arm und Reich im offiziell sozialistischen China heute größer als im kapitalistischen Amerika. Während Chinas Wirtschaft immer mehr Millionäre und Milliardäre ausspuckt, haben viele Bauern nicht einmal das Geld für einen Arztbesuch. "Ungleichheit ist zur Achillesferse des chinesischen Systems geworden", schreibt der Ökonom Branko Milanovic in Foreign Affairs.

Internet schafft keine Demokratie

Chinas zweite Waffe im Kampf der Systeme ist das Internet. „Im neuen Jahrhundert wird sich die Freiheit über Mobiltelefone und Kabel-Modems ausbreiten“, erklärte der damalige US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000. Damals waren sich Experten und westliche Politiker einig, dass die Digitalisierung und der freie Fluss von Informationen weltweit zu mehr Demokratie führen werde. Bei der Frage, ob autoritäre Staaten wie China nicht das Internet kontrollieren könnten, lachte Clinton nur. „Viel Glück dabei. Das ist wie, wenn man versucht einen Pudding an die Wand zu nageln.“

Heute hängt das chinesische Internet, um im Bild zu bleiben, fest vernagelt und nach den Wünschen der KP fixiert an den Wänden der mächtigen Internet-Zensurbehörde CAC im Zentrum Pekings. China hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten genau das geschafft, was lange als unmöglich galt: die komplette Zensur und Kontrolle des digitalen Raums. Jeder Post in den sozialen Medien, jede Email, jedes Telefonat, jeder digitale Einkauf der 1,4 Milliarden Chinesen wird heute digital registriert, von Algorithmen mit künstlicher Intelligenz durchleuchtet und von einem Heer an menschlichen Zensoren kontrolliert. Weil jeder Internetnutzer sich mit Echtnamen registrieren muss, kann niemand der Zensur entkommen.

Die digitalen Kontrollen umfassen längst nicht nur das Internet, sondern nahezu alle Lebensbereiche. Mehr als eine halbe Milliarde Überwachungskameras, viele davon mit Gesichtserkennung ausgestattet, leuchten Städte, Straßen und das gesamte öffentliche Leben aus. Die Kontrollsysteme ermöglichen es den Behörden, den kompletten Alltag der Menschen, von der morgendlichen U-Bahnfahrt über die Arbeit bis zum abendlichen Besuch bei Freunden mit Hilfe von Datenanalysen zu überwachen.

Perfektioniert wird der Überwachungsstaat mit dem sogenanntes Sozialkredit-System. Dabei wird das soziale Verhalten der Bürger anhand eines digitalen Punktesystems bewertet. Wenn jemand bei Rot über die Ampel geht, sich mit den Nachbarn streitet oder nachts zu lange Computerspiele spielt, werden Punkte abgezogen. Wer sich im Sinne der KP wohlgefällig verhält, bekommt Pluspunkt. Wenn das Rating einen bestimmten Wert unterschreitet, verhängt das System automatisch Sanktionen. Vor zwei Jahren durften nach offiziellen Angaben mehr als 30 Millionen Chinesen nicht mit dem Flugzeug oder in Schnellzügen reisen – als Strafe dafür, weil ihr sozialer Punktestand zu niedrig war. Umgekehrt gilt ein hoher Punktestand als Auszeichnung, mit junge Chinesen bei Dating-Portalen für sich werben.

Chinas Neuerfindung der Diktatur

„Die Neuerfindung der Diktatur“ nennt der Autor und China-Experte Kai Strittmatter dieses System in seinem gleichnamigen Buch. Pekings KP-Führern ist es gelungen, eine riesige Filterblase für das Milliardenvolk aufzubauen. Das Narrativ der KP wird von klein auf in den Köpfen der Menschen verankert und durch einen staatlich gelenkten Nationalismus zementiert. „Das System ist so ausgelegt, dass die Menschen die Kontrollen internalisieren“, sagt Strittmatter. Am Ende komme es gar nicht mehr darauf an, ob jemand in einem bestimmten Moment überwacht wird. „Es reicht schon, dass die Menschen das Gefühl haben, dass das Auge der Zensur sie jederzeit sehen könnte.“ Für Strittmatter nähert sich China mit seiner Mischung aus Hi-Tech-Überwachung, Konsumgesellschaft und nationalistischer Gehirnwäsche einem System, das Aldous Huxley in seinem Buch „Schöne neue Welt“ als perfekten totalitäre Staat beschrieb: Eine Bevölkerung aus Sklaven, „die man zu nichts zwingen muss, weil sie ihr Sklavendasein liebt“. Vielleicht erklärt das die Heerscharen nationalistisch aufgeheizter Chinesen, die im Internet und in Diskussionsforen mit Inbrunst just jene Zensur und autoritären Verbote verteidigen, mit denen die KP ihre Freiheiten und ihr Denken kontrolliert.

Für westliche Demokratien ist China ein systemischer Rivale – allerdings nicht, weil das System bessere Ergebnisse als der Pluralismus demokratischer Staaten liefert. Die KP hat die Chinesen zwar wohlhabend gemacht, aber nicht glücklich. Im World Happiness Report der Vereinten Nationen schafft es die Volksrepublik nur auf Platz 94 – weit hinter Ländern wie Deutschland (Platz 17) oder den USA (18). Ebenso schlecht ist Pekings Bilanz bei Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit oder beim Klimaschutz.

Was China jedoch zum Rivalen macht, ist die Tatsache, dass dieses System besser funktioniert als alle früheren Diktaturen. Ein System, das so viel materiellen Wohlstand produziert, dass es das Volk mit immer mehr Konsum sedieren kann. Das militärisch und ökonomisch so mächtig geworden ist, dass es die Spielregeln der Weltgemeinschaft zu seinen Gunsten beugen kann. Ein System, das im Gegensatz zu klassischen Diktaturen wie Russland oder Myanmar kaum noch auf physische Gewalt zurückgreifen muss. Das mit jedem Schritt der Digitalisierung nicht schwächer, sondern mächtiger wird. Weil es die Köpfe der Menschen immer besser kontrollieren kann.

Chinas Überwachungstechnologie ist heute ein Exportschlager, vor allem in autoritären Staaten. In Iran, Myanmar, Venezuela oder Zimbabwe werden die Systeme bereits von den Behörden eingesetzt. Einem Bericht der Financial Times zufolge haben mindestens 64 Länder digitale Kontrollsysteme in China bestellt, offiziell werden die Projekte meist als Smart City-Lösungen verkauft. In Wirklichkeit gehe es jedoch um „die globale Expansion des chinesischen Systems des digitalen Autoritarismus“, sagt Xiao Qiang von der Berkeley University in Kalifornien. Die von China exportierten Systeme hätten „die Fähigkeit, Gesellschaften zu kontrollieren, zu überwachen und Zwang auszuüben.“

Für Autokraten dürfte Chinas Angebot künftig noch attraktiver werden. Ein Komplettpaket zur digitalen Überwachung der Bürger – von der Gesichtserkennung auf der Straße bis zur automatisierten Gedankenzensur im Internet. Möglicherweise erleben wir bald wieder eine Zweiteilung der Welt. Ein eiserner Vorhang, diesmal jedoch im digitalen Raum. Auf der einen Seite die Länder, in denen sich die Menschen frei im Internet bewegen und ihre Meinung äußern können. Auf der anderen Seite lauter kleine Chinas, in denen jeder Post und jede digitale Spur überwacht und zensiert wird.

Ein neuer Wettbewerb der Systeme

Die Dystopie eines digitalen Totalitarismus muss nicht Wirklichkeit werden. Über den künftigen Erfolg oder Misserfolg demokratischer Systeme und freiheitlichen Gesellschaften entscheidet nicht China, sondern wir selbst. Der Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington Anfang des Jahres, als Hunderte Menschen versuchten, gewaltsam die Ernennung eines demokratisch gewählten Präsidenten zu verhindern, hat erneut gezeigt, dass die größte Gefahr nicht von außen kommt, sondern von innen. In der Chemie bezeichnet man einen instabilen Zustand, wenn einem System ständig Energie hinzugefügt werden muss, damit es erhalten bleibt. Das gleiche lässt sich auch über Demokratie sagen. Oder mit den Worten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Wir brauchen die Demokratie – aber ich glaube: Derzeit braucht die Demokratie vor allem uns.“

Erschienen 10/2021 in Cicero

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