Herr Lee trifft seine Frau

Vor einem halben Jahrhundert trennte der Koreakrieg tausende Familien. Jetzt durften sich einige zum ersten Mal wieder sehen und miteinander sprechen.

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Foto: AFP

SEOUL, Südkorea - Es war im Kriegswinter 1950, Schnee bedeckte die Schlachtfelder in Korea, als Lee Son-Haeng die schwerste Entscheidung seines Lebens treffen musste. Im Norden drohte dem damals 30jährigen die Zwangsrekrutierung durch die Kommunisten. In den Süden konnte er zwar flüchten, aber nur ohne seine Familie. Die Brücke über den Daedong-Fluss in Pjöngjang, der letzten Verbindung zum rettenden Süden, war zerstört. Wenn überhaupt konnten nur kräftige Männer einen Platz auf den wenigen Booten ergattern.

Der junge Lee entschied sich für die Flucht. Nach einem kurzen Abschied bricht er alleine über den Fluss Richtung Seoul auf. Zurück am anderen Ufer lässt er die Familie. Seine schwangere Frau, drei Söhne, die Mutter. "Damals dachten alle, dass der Krieg in ein paar Monaten vorbei sein werde", erinnert sich Lee. Ein Irrtum, den sich der heute 80jährige Lee nie verzeihen sollte.

Nach drei Jahren beenden die beiden Koreas ihren Krieg zwar mit einem Waffenstillstand. Doch Lee, mittlerweile Soldat in der Armee des Südens, kann bei der Feier seiner Kameraden über das Kriegsende nur weinen. Mit der Grenzziehung am 38. Breitengrad lebte seine Familie plötzlich in einem anderen Land. Unter einem stalinistischen Regime, dass keinerlei Verbindungen zu dem kapitalistischen Süden erlaubt. Fünfzig Jahre hat Lee keinen einzigen Kontakt zu seiner Frau und seinen Kindern. Keinen Brief, kein Telefonat, nicht mal ein Lebenszeichen. Bis zum vergangenen Sommer.

Als einer von 100 ausgewählten Südkoreanern durfte Lee im August letzten Jahres für drei Tage zum Verwandtenbesuch nach Pjöngjang reisen. Ein zweiter Austausch von je 100 Süd- und Nordkoreanern fand im Dezember statt. Zwar waren die Besuche kurz und die Teilnehmerzahlen begrenzt. Nur 200 Südkoreaner durften bislang zu ihren Angehörigen in den Norden, umgekehrt kamen 200 Nordkoreaner zu Besuchen nach Seoul. Und doch bedeutet der Familienaustausch für viele auf der koreanischen Halbinsel zum ersten Mal so etwas wie eine Hoffnung. Zehn Millionen Koreaner sind seit dem Krieg von ihren Familien im anderen Landesteil getrennt. Ihre Geschichten ähneln der des alten Lee. Geschichten von Menschen, denen der Kalte Krieg die Familien raubte.

Was soll man von einem Wiedersehen nach einem halben Jahrhundert erwarten, fünfzig Jahre ohne eine Nachricht? Würden sie ihn vergessen haben, fragte sich Lee. Würden sie Vorwürfe machen, dass er sie verlassen hat? Dass er als Büroangestellter im kapitalistischen Süden einen bescheidenen Wohlstand aufgebaut hat, während seine Familie im Norden versuchte, die politischen Kampagnen des Diktators Kim Il Sung zu überleben ohne zu verhungern?

Lee erkannte sie nicht wieder. Ein nordkoreanischer Aufpasser führte eine alte Frau und zwei Männer an seinen Tisch im staatlichen Koryo-Hotel in Pjöngjang. „Es war ein Schock, sie so alt zu sehen", sagt der immer noch schlanke und rüstige Lee. Seine Frau, die er als 28jährige zum letzen Mal gesehen hatte, ist eine Greisin. Verwundert blickt Lee den beiden über Fünfzig Jahre alten Männern ins Gesicht, die ihn „Vater" rufen. Acht und drei waren seine Söhne bei der Flucht gewesen. „Einen Moment wusste ich erst gar nicht, was ich machen soll", sagt Lee. Erst als sein ältester Sohn ein altes Familienfoto vorzeigt, fallen sie sich unter Tränen in die Arme.

„Ich war einfach nur noch glücklich", sagt Lee. Gegenseitig überhäufen sie sich mit Fragen über das Schicksal von Verwandten und Freunden, erzählen sie von ihren Erlebnissen über die Jahrzehnte. Die erste Begegnung, unter den wachsamen Augen nordkoreanischer Beamter in einem Hotelsaal, vergeht wie im Flug. Lee bleibt gerade Zeit, das Wichtigste zu erfahren. „Ich hörte zum ersten Mal, dass ich eine Tochter hatte", erzählt Lee. Seine damals schwangere Frau gebar nach seiner Flucht ein Mädchen, ohne dass er je davon wusste. Sehen darf er seine mittlerweile 49jährige Tochter in Pjöngjang nicht. „Ich hatte dafür ja keinen Antrag gestellt, sagt der alte Mann vorsichtig. Auch seinen mittleren Sohn trifft er nicht. Er sei vor einem Jahr an einer Lungenentzündung gestorben, erzählen seine Verwandten. Über genaueres schweigen sie.

Und seine Frau? „Sie hat nie wieder geheiratet. Wie hätte sie auch sollen, mit vier Kindern?", sagt Lee betrübt. Umso schwerer ist es für den alten Mann, seine nun folgende Aufgabe zu erfüllen. Lee kam nicht alleine nach Pjöngjang. Achtzehn Jahre hatte er im Süden auf seine Familie gewartet, ehe er wie die meisten Flüchtlinge aus Nordkorea erneut heiratete. Der Zufall wollte es, dass seine zweite Frau Lee Song-ja ebenfalls ihre beiden Söhne in den Kriegswirren im Norden zurücklassen musste. Die heute 81jährige durfte deshalb ebenfalls auf einen der hundert begehrten Plätzen mit nach Pjöngjang reisen. Ein halbes Jahrhundert hatten sie nichts voneinander gewusst, und plötzlich saßen sie alle um einen Tisch. Ein Mann, seine beiden Frauen, ihre Kinder. Sie seien nicht böse aufeinander gewesen, sagt die südkoreanische Lee Song-ja. „Jeder wusste, was die anderen durchgemacht haben."

Seine erste Frau habe ihm keine Vorwürfe gemacht, sagt Lee. Aber sie habe bei dem Wiedersehen auch nicht geweint. Nachdem sie jahrelang keine Nachricht bekam, hielt sie ihren Mann irgendwann für tot. Zehn Jahre waren sie einst verheiratet gewesen. Gab es noch Gemeinsamkeiten, fühlten sie sich nah? Lee antwortet ausweichend: „Um das festzustellen, war einfach nicht genug Zeit." Nur vier Mal durfte er in den drei Tagen in Pjöngjang mit ihr und den Söhnen zusammentreffen, die restliche Zeit mussten die Südkoreaner im Hotel warten oder in organisierten Gruppen die Stadt besichtigen. Begegnungen mit den Angehörigen waren nur in dem dafür vorgesehenen Hotel und unter Aufsicht gestattet. Gespräche unter vier Augen waren praktisch unmöglich.

Wahrscheinlich war dies das schlimmste für die Besucher aus dem heute demokratischen Süden: Hautnah zu erleben, wie ihre Angehörigen sich dem stalinistischen System anpassen müssen. Offenbar waren die Nordkoreaner vor den Familienbegegnungen indoktriniert worden. Seine Frau, die früher eher unpolitisch war, habe das „gute und glückliche Leben" unter „der Führung des weisen Führers Kim Jong Il" gelobt, berichtet Lee. Er selbst redete nicht über Politik. Er habe mit ihr aber über Gott gesprochen, sagt der überzeugte Christ, obwohl das im atheistischen Norden verboten sei. Hat er das Gefühl gehabt, dass seine Familie in Nordkorea glücklich ist? Lee presst die schmalen Lippen aufeinander. Natürlich hat er Angst, dass seine Familie im Norden Repressalien erleiden könnte.

„Unsere Generation muss den Krieg endlich überwinden. Es bringt nichts, über die alte Feindschaft zu reden", sagt Lee diplomatisch. Er sei nur dankbar, dass er vor seinem Tod überhaupt seine Familie noch einmal sehen durfte. Auch seine heutige Frau, Lee Song-ja, zeigte sich bei dem Treffen mit ihrer Vorgängerin versöhnlich. „Wenn Korea eines Tages wiedervereinigt ist", sagte sie der Nordkoreanerin zum Abschied, „kannst du wieder mit ihm zusammenleben."

Erschienen im Tagesspiegel

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