Professor You schweigt nicht mehr

Kameras überwachen die Hörsäle, Studenten denunzieren ihre Professoren. Chinas Kontrolle über Universitäten und Wissenschaftler ist so repressiv wie seit Jahrzehnten nicht. Wer von der Staatsmeinung abweicht, riskiert seinen Lehrauftrag – und seine Freiheit

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Foto: Katharina Poblotzki für DIE ZEIT

XIAMEN, China - Irgendwann bemerkte You Shengdong die Videokameras und Mikrofone in den Hör- sälen. Er beobachtete, dass die Kollegen an seinem Institut über manche Themen immer vorsichtiger sprachen. Eines Tages erfuhr er, dass Studenten ihn bei der Uni- versitätsleitung denunziert hatten. Plötz- lich habe er als »radikal« und »Antikommunist« ge- golten, erzählt You, Professor für Wirtschaftswissen- schaften an der Xiamen-Universität an Chinas Küste. Er verliert seinen Lehrauftrag, Beamte der Sicherheitspolizei schalten sich ein. Sein Vergehen: You Shengdong hatte es gewagt, Staats- und Partei- chef Xi Jinping zu widersprechen.

Nach Jahrzehnten der Reform- und Öffnungs- politik, die Millionen Chinesen Wohlstand und neue Freiheiten brachte, erlebt China eine ideologische Eiszeit. Seit Xi Jinping 2012 die Führung in Peking übernahm, regiert er das Land mit einer autoritären Machtfülle, wie es sie seit Mao Zedong nicht mehr gab. Seine Worte haben Verfassungsrang, offiziell festgeschrieben als »Xi Jinpings Gedankengut für das neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung«. Eine Begrenzung seiner Amtszeit hat er abgeschafft. Kritiker und Dissidenten lässt er verhaften. Medien und Internet werden so stark zensiert wie seit Jahr- zehnten nicht mehr, auch die Wissenschaft.

Die Zensur und die ideologische Überwachung an Universitäten und Forschungseinrichtungen hätten sich »stark verschärft«, sagt Mareike Ohlberg, Expertin am Mercator Institut für chinesische Studien in Berlin: »Das Politische – also das, wozu man nur eine korrekte Meinung haben kann – weitet sich aus.« Kameras zeichnen den Unterricht der Dozenten auf, sodass jedes Wort kontrolliert werden kann. Studenten werden als Denunzianten eingesetzt. Jede Abweichung von der Staatsdoktrin ist für die Lehrenden gefährlich. »In den letzten Jahren wurden die Kontrollen immer stärker«, sagt You Shengdong. Er erzählt das im Rückblick, am Telefon. Der 72-Jährige lebt seit 2018 in New York, getrennt von seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern. Er kann kein Englisch, wie es für ihn beruflich weitergeht, weiß er nicht. Kaum ein chinesischer Wissenschaftler traue sich, über die zunehmende Zensur und Beschränkungen der Freiheiten zu reden, sagt You. Auch er kann nur sprechen, weil er im Exil lebt. »Die Professoren stehen unter Druck, niemand wagt zu sprechen.« Wer trotzdem offen die eigene Meinung...

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Erschienen am 28.12.2019 in DIE ZEIT

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